Der Goldrand als Wurzelgeflecht
Der Goldrand als Wurzelgeflecht
Der Goldrand verkleckert
Der Goldrand verkleckert
Der Goldrand als Spinnennest
Der Goldrand als Spinnennest
Wurzelgeflecht Großansicht
Wurzelgeflecht Großansicht
Kleckerrand Großansicht
Kleckerrand Großansicht
Spinnennest Großansicht
Spinnennest Großansicht
2014

The Cup Project

Gestaltung

Beate Grübel – polydukt DESIGN

Pate

Annika Brinkmann

Kategorie

Begleiterscheinung

vorgeschlagen am

10. Juni 2014

Plädoyer

Das »Dschungelcamp« feierte 2014 sein zehnjähriges Jubiläum. Wieder einmal ging es in dieser Fernsehsendung um das Überwinden von persönlichen Grenzen, um Unbehagen und Ekelthemen. Ekel hat viel mit dem individuellen Empfinden zu tun. Jeder Mensch hat hier seine ganz persönliche Hemmschwelle. Es geht dabei um Ängste, gar um ausgewachsene Phobien, die mit Hygiene, Geschmack, Geruch und Haptik zu tun haben.
 Ekel ist nicht rational. Genau so wenig, wie es Phobien sind. Das Herz schlägt schneller, es wird einem heiß, der Körper ist in Alarmbereitschaft. »Bäh« und Würgegeräusche sind die akustischen Äußerungen, die wir von uns geben, wenn wir etwas uns Unangenehmes sehen, schmecken oder riechen. Wir schütteln uns, um diese Empfindung los zu werden. Mitunter haben wir sogar das Bedürfnis, uns mindestens die Hände zu waschen oder dem Unbehagen einen Wohlgeruch, -geschmack oder -gefühl entgegen zu setzen.
»Mhm« oder sogar Schmatzgeräusche geben wir von uns, wenn wir einen Geruch oder Geschmack lieben. »Mhm« ist ein Laut des Genusses. Genuss bringt uns zum schmunzeln. Wir fühlen uns wohl, wir tun uns etwas Gutes.


Eines der beliebtesten Genussmittel ist Kaffee. Wie jedes Genussmittel, kann er zur Sucht werden. Achtlos und in Mengen konsumiert wird aus seiner anregenden Wirkung ein beständiges Anreichern des Nervengift-Spiegels. Zelebriert als die Tasse am Nachmittag, feine Süßspeisen dazu, kultiviert aus dünnwandigen, kleinen Tassen getrunken, wird der Genuss des Kaffees zum Highlight des Tages. Kaffee gibt es als Massenware, jedoch auch als Luxusgut. Um die Qualität von Kaffeebohnen, die von Wildkatzen oder Ziegen gefressen und von ihnen ausgeschieden wurden, ranken sich Mythen. Damit wären wir wieder beim Thema Ekel, Hemmschwellen und Unbehagen …


Beide Themen – kultivierten Genuss und spontanes Unbehagen – bringt Beate Grübel in ihrem Kaffeeservice zusammen. Dünnwandig das Porzellan, klassisch der schmale Henkel, der das Halten der Tasse nur mit drei Fingerspitzen erlaubt.
 Das Bild, das sich beim Anblick dieser Tassen vor meinem inneren Auge abspielt, ist antiquiert: Es zeigt eine kleine Kaffeegesellschaft, in der Kaffee stilvoll bis etepetete vom besten Porzellan mit makellosem Dekor genossen wird und einen herben Kontrapunkt zum süßen Gebäck bildet. Vor meinem inneren Auge spielen Rosa, Hellblau, Stuck, gestärkte Rüschendecken und Perfektion eine Rolle. Perfektion im Sinne einer makellos sauberen Szenerie, die nur durch wenige Kleinigkeiten ruiniert werden kann. Und diese Kleinigkeiten hat Beate Grübel in goldenem Dekor direkt auf die Tassen gebannt! Kleine Spinnen krabbeln hundertfach an einem Henkel hoch und besetzen den Teil, den man eigentlich anfassen wollte, um die Hitze des Kaffees erst im Mund und nicht schon mit der Hand zu spüren. Eine Spinne hält sich sogar dort an der Tasse auf, wo die Lippen platziert werden. Man möchte sich schütteln bei dem Gedanken, es wären echte Spinnen, so schreckt es einen. Doch halt! Dabei könnte der Kaffee verschütten! Einer der schlimmsten Fauxpas, die beim Servieren dieser Köstlichkeit passieren können! Kostbarer, schwarz glänzender Kaffee auf der Untertasse und am unteren Rand. Kaffee, der Flecken macht, wenn er auf dem Weg der Tasse zum Mund herunter tropft und peinliche Flecken auf der Kleidung oder dem Tischtuch hinterlässt. Unangenehm! Peinlich! Noch peinlicher ist es, wenn eine Tasse dreckig auf den Tisch gelangt, der Gast gar versucht, die Tasse unbemerkt zu säubern oder sich mit einem dezenten Hinweis eine andere geben lässt. Die häufigsten Flecken sind vermutlich die Reste von Lippenstift. Was aber, wenn man der Tasse ansieht, dass sie nicht nur schlecht, sondern möglicherweise nach der – geraume Zeit zurückliegenden – letzten Nutzung gar nicht gewaschen wurde und ein Schimmelpilz sein Myzel über den Rand wuchern lässt? Es schüttelt mich!


Beate Grübel spielt mit unseren Emotionen. Sie verknüpft bewusst positive und negative Assoziationen, um uns zu irritieren, ja: zu provozieren. An dieser Stelle wird aus Produktdesign Kunst am Alltagsobjekt. Dieses Design will nicht gefallen um jeden Preis. Es will uns herausfordern. Dazu, unsere persönlichen Hemmschwellen und Verhaltensmuster zu hinterfragen und über unseren Schatten zu springen. Stellen wir uns unserer ganz persönlichen Dschungelprüfung!

PS Das Design hat in seiner Entstehungsgeschichte nichts mit dem Dschungelcamp zu tun!

Beschreibung

»The Cup Project« ist das Ergebnis eines Experiments. Es ging mir darum, ein klassisches Produkt – die Goldrand-Tasse – soweit mit Spannung aufzuladen, bis es dazu anregt, die eigene Haltung, Gewohnheiten und anerzogene Verhaltensmuster in Frage zu stellen. Dabei legte ich den Fokus ausschließlich darauf, den Goldrand so zu verändern, dass es zu einer Wahrnehmungsirritation kommt, zu einer Art Rückkopplung zwischen Sehen und Fühlen.

Um das zu erreichen, stellte ich mir folgende Fragen: mit welchem Gefühl möchte ich am wenigsten konfrontiert werden, wenn ich eine Porzellantasse zum Mund führe? Welche grafische Zusatzinformation kann den Goldrand so verändern, dass er einen Impuls zur Verhaltensänderung liefert? Und: wodurch entstehen überhaupt Hemmschwellen, Abneigungen und Verhaltensautomatismen?

Was ich persönlich nicht möchte, wenn ich aus einer Tasse trinke, selbst wenn sie aus noch so hochwertigem Material ist, war mir relativ schnell klar: pelzig und fusselig soll es nicht sein, staubig und schmutzig nicht, spitz und splittrig auch nicht. Ich möchte beim Trinken bitte nicht bekleckert werden und mit meinen Händen und Lippen nichts berühren müssen, was unangenehme Assoziationen in mir auslöst.

Je länger man sich mit den eigenen Hemmschwellen und Abneigungen auseinandersetzt, desto klarer wird, wie stark der jeweilige kulturelle und soziale Kontext das Empfinden prägt und zur Entstehung von Verhaltensautomatismen beiträgt. Die Koppelung an persönliche (Negativ-)Erlebnisse färbt die Reaktion auf gewisse »grafische Zusätze«. Es gibt starke, angeborene Schutzreflexe, wie etwa das automatische Verschließen der Lippen, wenn sie etwas Pelziges ertasten, um uns vor der Aufnahme von Verdorbenem (Schimmel) oder Schwerverdaulichem (Fell) zu bewahren.

Und so stellt sich jedem in ganz unterschiedlicher Intensität die Frage:

Setzt man seine Lippen wirklich gerne an einen Tassenrand, der von feinem Wurzelgeflecht überzogen ist, auch wenn dieses aus hochwertigstem Gold ist?

Hält man beim Anheben der Tasse nicht intuitiv schützend die Hand unter sie, um ein Kleckern zu vermeiden?

Und zögert man nicht unwillkürlich, eine Tasse zu ergreifen, an deren Henkel sich ein Spinnennetz befindet?

Die Tassenkollektion »The Cup Project« führt also beim Betrachten zu den unterschiedlichsten Reaktionen, die einem im »Normalfall« gar nicht in den Sinn gekommen wären. Sie regt zu Gesprächen an und liefert Denkanstöße.

Jetzt können Sie sich natürlich fragen, welchen Sinn es haben soll, ein Produkt durch Gestaltung bewusst so zu verändern, dass man ihm mit gemischten Gefühlen und vielleicht sogar mit Abneigung gegenüber tritt. Besteht doch eine der grundlegenden Aufgaben des Designs darin, Begehrlichkeit zu wecken und nicht darin, Hemmnisse zu schaffen. Aber gegenläufig zu arbeiten und Gewohnheiten zu durchbrechen, halte ich für sehr wertvoll. Und zwar immer dann, wenn es dazu beitragen kann, zum Nachdenken anzuregen, Wahrgenommenes zu hinterfragen, den eigenen Standpunkt zu überprüfen – und dadurch den Boden dafür zu bereiten, um eingefahrene Wege überhaupt verlassen zu können. Hier kann Raum für Neuentwicklung entstehen.

Details

Entstehungsjahr

2010

Prototyp

weitere Angaben

Fotorealistische Designkonzeption

initiiert von

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