13. Juni 2013

Christian Holl

Objektivität

oder
Was man gewinnt, wenn man zum Beispiel verschiedene, sich widersprechende Architekturkonzepte anerkennt

Karl Krauss hat einmal behauptet, dass ein Wort um so ferner zurückschaut, je näher man es ansieht. Dass er damit nicht falsch liegt, werden die meisten schon selbst erlebt haben. Für die Architektur, die zu verstehen ich mich seit Jahren genauso mühe, wie ich es den Architekten unterstelle, gilt das genauso: immer dann, wenn ich hoffe, etwas verstanden zu haben, scheint sich noch viel mehr aufzutun, das erst noch zu ergründen ist. Immerhin, der Lohn ist der, dass man auf Zusammenhänge und Begriffe stößt, die nicht unbedingt etwas mit Architektur zu tun haben müssen, aber auf sie bezogen werden können, schon allein deshalb, weil Architekten sich auch nicht damit begnügen, sich auf das zu beschränken, was ihr Gegenstandsbereich ist, sondern verbunden mit im besten Fall produktiven Missverständnissen sich bei vielen anderen Disziplinen bedienen, um – ja, um was eigentlich? An dieser Stelle sind wir schon ganz tief eingesunken in die Welt, an der Architekten sich ebenso abarbeiten wie sie sie hoffen gestalten zu können. Um Beziehungen zwischen sich und den anderen zu schaffen, in denen sich die Menschen verstehend begegnen können? Vielleicht. 

Im Ende letzten Jahres erschienenen Buch »Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins.« stellt Volker Gerhardt fest, dass der Mensch »als Individuum aus sich heraustritt und sich selbst gleichsam von außen betrachten und bewerten kann. Damit hat er das Organisationszentrum seines bewussten Lebens wesentlich auch außerhalb seiner selbst. Er muss auf Distanz zu sich selber gehen, um im menschlichen Lebenskontext er selbst zu bleiben.« Und eine Seite weiter heißt es: »So bewegt sich der Mensch in der 'Objektivität' einer Welt, an der er selbst beteiligt ist. Sein 'Umfeld' nimmt 'Weltcharakter' an. 'Weltcharakter' bezeichnet die Einheit, die sich aus der prozeduralen Gemeinsamkeit der sich überlagernden Einzelperspektiven ergibt und damit als ein öffentlich konstituierter Raum aus 'Bedeutungen' begriffen werden kann.« (1)  

Die Objektivität in der Welt, in der der Mensch sich bewegt, ist demnach gekennzeichnet durch die Fähigkeit des Menschen, sich von außen zu betrachten und zu bewerten – erstens, und zweitens der Einheit, die sich aus der prozeduralen Gemeinsamkeit der sich überlagernden Einzelperspektiven ergibt. Das Dilemma der Architekten ist, dass sie die Entscheidung darüber, was als Gemeinsamkeit von Einzelperspektiven sich prozedural ergeben könnte, schon behaupten müssen, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass ein Prozess in Gang gesetzt werden kann, an dessen Ende die Übereinkunft darüber besteht, was die Gemeinsamkeit der Einzelperspektiven sein könnte. 

Einfacher gesagt: Erst wenn das Haus steht, kann man sich darüber unterhalten, ob man es auch so gewollt hat. Dann steht es aber schon.

Man hat es nicht einfach mit der Welt. Sie ist ein Jammertal, und das ist sie leider auch geblieben, seit sich die Menschen von der Religion befreit haben. Versprechungen auf eine glorreiche Zukunft in dieser Welt haben sich als nicht einlösbar erwiesen, und wenn es schlecht lief, endeten sie in einer Gegenwart voller Terror und Gewalt. Dass die Welt ein Jammertal ist, gilt auch für Architekten. Sie führen kein besonders fröhliches Leben, das weiß jeder, der regelmäßig mit ihnen zusammenkommt. Sie werden mit Forderungen konfrontiert, die sie nicht erfüllen können. Sie sollen »zukunftsfähig« bauen und dürfen doch keine Missionare sein. Man kann es durchaus verstehen, dass Architekten es leid sind, einerseits die Ärmlichkeit der Moderne vorgehalten zu bekommen und gleichzeitig dazu verpflichtet zu werden, sparsam sein zu müssen. Und haben dann auch noch mit den Ansprüchen zu kämpfen, die sie aneinander stellen. So glauben Architekten daran, dass Architektur mehr ist als Zweckerfüllung, genauer gesagt, dass der Zweck der Architektur über das materielle Nützlichkeitsprinzip hinausgreift. Der Zweck ist »stets auf ein geistiges Prinzip, eine Idee, gerichtet und erfährt dadurch eine besondere Weihe«, wie es Fritz Baumgart 1953 beschrieb (2), und zwar in Bezug auf Schinkel, an dem sich ja auch seit 1953 der ein oder andere orientiert hat. Und dann wird ein Schloss wiederaufgebaut, das eine absolutistische Herrschaftsform repräsentiert. Nein, nicht nur eines. Es ist zum Verzweifeln. Der Architekt rächt sich (zumindest in Berlin) dafür an den Politikern und am gemeinen Publikum, indem er die Fassaden, die neu gebaut werden dürfen (also nicht rekonstruiert werden müssen), durch besonders reduzierte, vulgo ärmliche ergänzt. Das haben sie jetzt davon. Zeitlose Rationalität statt historisierender Gemütlichkeit. 

Auf der Suche nach der verlorenen Architektur 

Weil man nicht mehr daran glauben darf, dass die Zukunft besser als die Gegenwart wird, schaut man lieber gleich nach hinten. Die Gesellschaft ist verunsichert, und die Architekten dürfen es auch sein, ohne sich dafür schämen zu müssen. Sie suchen nach Orientierung und immer, wenn sie nach Orientierung suchen, schauen sie entweder auch in die Vergangenheit, oder sie orientieren sich an dem, was sie unter Natur verstehen und von dem sie meinen, dass es sich deswegen weiterem Hinterfragen entzieht. Also irgendetwas, das irgendwie objektiv sein könnte, das schon richtig ist, bevor man sich über das Haus, das da gerade gebaut worden ist, unterhalten kann. Und beides verknüpfen sie mit der Behauptung von Objektivität, die sie so lange wiederholen, bis sie daran glauben. Damit immunisieren sich Architekten gegen eine Kritik, auf die sie nicht mehr direkt reagieren können. Das Haus, das kritisiert wird, können sie nicht gleich noch einmal, dann aber ganz anders bauen. 

Und so kommt es, dass eine der erstaunlichsten Restriktionen im Prozess, in dem Architektur entsteht, das Ausblenden von Subjektivität ist, obwohl diese doch eine Grundlage für die Qualität von Architektur ist. 

Subjektivität: Wenn sie bemüht wird, um über die Arbeit von Architekten zu reden, dann werden selten Komplimente gemacht. Sie wird als Willkür empfunden. Aus »subjektiven Geschmacksneigungen«, so Lampugnani, entstehe keine »Stadtarchitektur« (3); berüchtigt sind die Architekten, die sich angeblich selbst verwirklichen wollen, auf Kosten des Bauherrn und der Nachbarn versteht sich. Berufspolterer wie Ulf Poschart schimpfen darüber, dass der Drang zur Selbstdarstellung die Städte ruiniere und dass es einem Teil der Architekten schwer falle, »an sich zu halten.« (4) Demgegenüber stellt man die Qualitäten der Objektivität. Sie drücken den Wunsch nach einer verlässlichen Basis aus, auf der man Architektur bewerten kann, ohne sich auf das dünne Eis des Geschmacksurteils bewegen zu müssen.

 Diese Basis sucht man in wissenschaftlichen Methoden – in ihnen sieht man, nicht zu unrecht, am ehesten die Gewährleistung für Objektivität. Man rechnet und misst. »Die neuen Städtebauer werden als Entwerfer und Gestalter auftreten, zuvor aber als Forscher und Wissenschaftler«, ihre Arbeit ist »die objektive Erhebung von umweltrelevanten Daten.« (3) – wer auch immer jeweils darüber entscheidet, welche Daten umweltrelevant sind. Andere nutzen, um ihre Entwürfe zu erklären, ein Vokabular, das Objektivität verspricht, weil es medizinisch oder naturwissenschaftlich konnotiert ist: Halbwertszeit, Parasit, Akupunktur, Adaption, Transplantation.

Zwei Pole

Dieser Wunsch nach objektiven Kriterien ist verständlich. Er ist auch nicht falsch, im Gegenteil, er erfüllt eine wichtige Funktion. Er ist die Grundlage in einem kommunikativen Prozess, er hilft, subjektive Entscheidungen zu vermitteln. Das Bemühen um Objektivität hilft dabei, sich über die Gestaltung zu verständigen, mit der viele leben müssen. Es verhindert (jedenfalls manchmal), dass teure und folgenreiche Fehler begangen werden. Aber die Sehnsucht, es werde eine erschöpfende objektive Bewertung von Architektur geben können, wird nie erfüllt werden. Architekten wissen das. Auch die meisten Bauherren würden sich wahrscheinlich, wenn man sie dazu nötigte, ernsthaft darüber nachzudenken, kein Haus wünschen, das ohne subjektive Entscheidungen entstanden ist. Es würden sich wahrscheinlich die wenigsten eine Stadt wünschen, in denen die Architektur lediglich den Ansprüchen genügen will, objektiv richtig zu sein. 

Trotzdem wird selten reflektiert, was Objektivität leisten kann, was an diesem Begriff fasziniert. Ich halte das für ein elementares Versäumnis. Ein Versäumnis, das wahrscheinlich im Wort selbst und dem, was man damit verbindet, begründet liegt. Etwas, das objektiv ist, ist es immer schon gewesen: »Wir fliehen das Subjektive, unter dem Druck der Überzeugung, dass alles, was es gibt, an sich, also unabhängig von jeder Perspektive, irgendwie sein muss«, so Thomas Nagel. (5) Diese Überzeugung macht allerdings blind dafür, dass unser Verständnis von Objektivität zum einen ein geschichtliches ist und zum anderen das Individuum ausblendet. »Objektivität verlangt nicht nur, die eigene, individuelle Perspektive aufzugeben, sondern sie erfordert auch, dass die spezifisch menschliche Sichtweise, ja sogar die für Säugetiere charakteristische Perspektive (…) überwunden wird«, so Nagel. In eine solche Perspektive lässt sich aber nicht alles integrieren, wodurch wir Welt erfahren. Sie bleibt immer unvollständig, da sie etwa die Sicht nicht anerkennt, mit der wir die Identität unserer Persönlichkeit erleben. 

Nagel plädiert deswegen dafür, Objektivität nur als Teilansicht dessen, was wir wahrnehmen können, zu verstehen, und zu akzeptieren, dass »die Dinge nicht nur auf eine einzige Weise existieren.« Nagel nennt diese Koexistenz die unerschütterliche Tatsache des Lebens. Objektivität und Subjektivität gelte es als Pole zu verstehen, zwischen denen wir uns bewegen sollten. Das hieße, das Ziel aufzugeben, »letzten Endes alles zu vereinheitlichen.« 

Nagels Objektivitätsbegriff als einer Perspektive auf die Dinge ohne Position (eines von Nagels Büchern trägt den Titel »Der Blick von Nirgendwo«), war aber nicht immer allen Menschen so geläufig wie uns heute. Es ist einer der Neuzeit. Hans-Georg Gadamer hat darauf hingewiesen, dass die Kühnheit von Galilei darin bestand, zu behaupten, »dass alles, was fällt, nach den gleichen Gesetzen fällt und gleich schnell fallen würde, wenn es den Luftwiderstand nicht gäbe. (…) Solches Abgehen vom Augenschein war die eigentliche neue Kühnheit mathematisch konstruktiven Denkens, das wir moderne Wissenschaft nennen.« (6) Wir sind derart vertraut mit dieser Abstraktionsleistung, dass wir vergessen, dass es andere Gesellschaften gab. Gesellschaften, in denen Menschen überhaupt nicht auf die Idee kamen, eine von der Position des Menschen unabhängige Beobachtung oder Messung vornehmen zu wollen – und das nicht nur, weil sie die Instrumente dafür nicht besessen hatten.  

Der Traum von der ahistorischen Natur

Der Grund für dieses Vergessen ist der gleiche wie der, der einen Teil der Faszination von Objektivität ausmacht: das Versprechen, ungeschichtlich zu sein. Weil Fall- und andere Naturgesetze ungeschichtlich sind, werden wir zur Illusion verleitet, diese Qualität lasse sich übertragen. Rorty interpretiert Objektivität in diesem Sinne gesellschaftlich. Er vertritt die These, »das Streben nach Objektivität sei zum Teil eine verhüllte Form der Angst vor dem Tod unserer Gemeinschaft«. (7) Das ist erklärungsbedürftig. Seiner Meinung nach sind wir dazu verleitet zu glauben, durch Objektivität ließe herauszufinden, worin unsere und »jede andere wirkliche und mögliche menschliche Gemeinschaft übereinstimmen.« Gesucht wird dabei nach einer ahistorischen menschlichen Natur, auf der eine Gemeinschaft gegründet werden könnte. Kann sie gefunden werden, dann müsste sie sich, da ahistorisch, immer wieder finden lassen.

Das tröstet: denn dann wäre es möglich, »die Tugenden, Erkenntnisse und Leistungen, die der Gemeinschaft Ruhm eingetragen haben, wiederzugewinnen, selbst wenn unsere Zivilisation vernichtet wird, ja selbst wenn alle Erinnerungen an unsere politische, intellektuelle oder künstlerische Gemeinschaft ausgelöscht werden.« So schreibt beispielsweise der Ethnologe Claude Levi-Strauss: »Die Gesamtheit der Bräuche eines Volkes ist stets durch Stil gekennzeichnet. Ich bin davon überzeugt, dass die Anzahl der Systeme begrenzt ist und dass die menschlichen Gesellschaften genau wie die Individuen – in ihren Spielen, ihren Träumen, ihrem Wahn – niemals absolut Neues schaffen, sondern sich darauf beschränken, bestimmte Kombinationen aus einem idealen Repertoire auswählen, das sich rekonstruieren ließe.« (8)

Dem mag sich Rorty nicht anschließen. Er macht darauf aufmerksam – und das sollte gerade Architekten interessieren –, dass man damit die Potenziale blockiert, andere, »interessantere« Dinge zu tun, dass wir uns damit verbieten zu denken, dass wir auch andere Personen sein könnten. Anwendbare, objektive Kriterien helfen uns, zu bekommen, »was zu wollen wir vorher schon entschlossen waren« (9) – aber sie beschränken uns auch darauf. Damit wird all das ausgeschlossen, was unter Verdacht gestellt werden kann, nicht Teil der ahistorischen Natur des Menschen zu sein. Rorty hält es lieber mit Nietzsche und dessen Mahnung, nicht zu vergessen, dass die Wahrheit nichts anderes sei »als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.« (7) Das lässt sich nun ohne weiteres auf die Gestaltung übertragen. Einen subjektiven Zugang zur die Geschichte zu suchen, ist dadurch ebenso legitimiert wie die Offenheit fürs Experiment. Damit ist das jeweils einzelne Ergebnis noch nicht notwendigerweise auf Dauer sinnvoll, allerdings lässt sich das nicht a priori deduzieren. Es geht nicht darum, Subjektives gegen Objektives auszuspielen, sondern sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie wir mir dem, was die Begriffe bedeuten, umgehen können. Es frei, variabel und im Bewusstsein seiner Grenzen und Möglichkeiten zu tun, könnte sich lohnen – noch einmal Thomas Nagel: »Wenn wir dafür sorgen, dass weder das Objektive vom Subjektiven noch das Subjektive vom Objektiven verschluckt werden kann, dann sollte es der Kreativität dienen.«

Zwischenbilanz

Der Begriff der Objektivität umschreibt

● gesellschaftlich eine außerhalb des eigenen Individuums mit anderen Einzelperspektiven zur Deckung gebrachte Gesamtperspektive. Erst diese »Objektivität« erlaubt es, allgemeine und unveräußerliche Menschenrechte zu formulieren (Volker Gerhardt)

● die Fähigkeit, eine Perspektive außerhalb seiner selbst einzunehmen und daraus Beobachtungen zu beschreiben, die immer wieder genau so gemacht werden können. (Thomas Nagel) Letzteres bedeutet, nicht nur die eigene, individuelle Perspektive aufzugeben, sondern in ihrem Extrem, dass man die spezifische menschliche Sichtweise aufgibt. Das Streben nach Objektivität erfordert ein Transzendieren des Selbst und der Spezies. Darin wird jede Form der Subjektivität eliminiert, jede Form der persönlichen Empfindung und damit auch der persönliche Standpunkt. Damit verlieren wir die Fähigkeit, das, was uns betrifft, in unser eigenes Leben integrieren.

● Wird Objektivität, wie sie Nagel versteht, geschichtlich interpretiert, verleitet sie uns dazu, zu glauben, es gäbe einen Zustand des Gesellschaftlichen, der immer wieder hergestellt werden kann. (Richard Rorty)

Thomas Nagel nun schlägt vor, die Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv nicht absolut zu setzen, sondern sie relativ zu sehen, anstatt uns darum zu bemühen, alle Erscheinungen des Realen in eine objektive Welt einzuverleiben, auch das, was nicht in ihr enthalten ist. Er fordert, »dem Heißhunger nach Objektivität zu widerstehen und die Annahme aufzugeben, dass wir einen Fortschritt in unserem Verständnis der Welt und des Standpunktes, den wir in ihr einnehmen, einfach dadurch erreichen können, dass wir uns von diesem Standpunkt distanzieren und alles, was uns von ihm aus erscheint, in ein einziges umfassenderes Bild integrieren.«

Diese Auffassung ist schwieriger zu akzeptieren, als es zunächst scheinen mag, denn sie impliziert, dass, so Nagel »die Dinge nicht nur auf eine einzige Weise existieren. Es ist das Ziel, letzten Endes alles zu vereinheitlichen, das meiner Meinung nach in unserem Nachdenken über die Frage, wie wir unser Leben führen sollten und in unserem Bild von dem, was existiert, fehl am Platze ist.« (10)

Und was heißt das jetzt konkret?

Damit können wir wieder zur Architektur kommen. Es ist nun vielleicht deutlich geworden, dass man Architektur nicht damit gerecht werden kann, dass man versucht, sie auf objektivierbare Kriterien zu reduzieren. Sie ist im Sinne Rittels ein bösartiges Problem: Sie ist nie richtig. (11) Dass Architektur richtig ist, kann man nur glauben, wenn man Architektur auf einen Satz feststehender Regeln reduziert, die zu erlernen man eine Ausbildung hinter sich bringt. Wenn man meint, die Qualität von Architektur lasse sich in quantifizierbaren Größen erschöpfend erfassen – Energieverbrauch, Haltbarkeit, Kosten. Architektur lässt sich aber nicht in richtig oder falsch kategorisieren. Ihre Qualität kann man nicht abstrakt beschreiben, kann man nicht in Konstanten oder Gesetzmäßigkeiten dingfest machen, auch wenn man gerade mit den DGNB-Siegeln wieder einen Versuch unternimmt, Architektur in Tabellen zu pressen. (12) 

Architektur ist auch nicht richtig, weil man sich die Natur, zum Beispiel Seeigel, zum Vorbild nimmt. Der Mensch ist aber kein Seeigel, sondern ein kulturelles und gesellschaftliches Wesen. Und deswegen ist die Frage von guter Architektur immer auch Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, Teil einer komplexen Struktur, in der Werte, Symbolsysteme, Rationalitätsverständnis und Weltdeutungen auf den Bedeutungsgehalt Einfluss nehmen, den man ihr beimisst. Welche Bedürfnisse Architektur befriedigen soll, ist in einen gesellschaftlichen Diskurs über sie verflochten; es gibt diese Bedürfnisse nicht a priori. Die Formen, in denen man sich austauscht, sind schon selbst Teil dessen, was man verhandelt: Worüber man spricht, sagt schon aus, was man wichtig finden möchte. Deswegen muss das, worüber man spricht, prinzipiell offen für alle sein, und wenn es gut läuft, ist ein solcher Diskurs einer, der Abwägung gestattet, Minderheiten schützt und Sachverstand zur Geltung bringen lässt. Wenn es gut läuft ist der Diskurs also nicht nur einer, der auf respektheischenden Podien mit bekrawatteten und honorigen Herren in Amt und Würden jenseits der 60 geführt wird. Wir sind nicht nur keine Seeigel, wir sind auch keine Bürgergesellschaft mehr, die in exklusiven Salons auskungelt, Verzeihung, diskursiv ausficht, was guter Geschmack zu sein habe. 

Richtig ist, dass jede Architektur Teil der Geschichte von Architektur ist. Diese Geschichte lässt sich nicht ignorieren, sie lässt sich aber auch nicht reduzieren, weder auf eine in ihr zur Erscheinung kommende Essenz noch auf eine Entwicklung hin zu einer Stadt, von der Auserwählten bestimmen, wo in ihr das Gute, Wahre und Schöne zu finden sei. Es gibt keine aus der Geschichte deduzierbare, folgerichtige Entwicklung, die durch »subjektive Vorlieben« oder»Individualismus«, wie es dann heißt, gestört werden kann. Das Erstaunliche ist, nebenbei bemerkt, dass man auch für das vermeintlich objektiv Richtige dann doch wieder meint, den privilegierten Entwerfer fordern zu müssen. Merke: Es gibt ihn eben doch, den subjektiven Entwerfer, sein Werk, und dessen Einzigartigkeit. 

Und wenn sogar schon die Fußballzeitschrift »Kicker« Kant damit zitiert (selbst wenn der Autor des »Kicker« aus Wikipedia abgeschrieben hat), dass der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils kein Erkenntnisurteil ist, sondern »nicht anders als subjektiv sein kann …« (13), dann dürfen sich auch Architekten die grundsätzliche Subjektivität jedes Entwurfs eingestehen und müssen sie nicht mit Objektivierungsstrategien vernebeln. Die Erkenntnis, dass das ästhetische Urteil keines der Erkenntnis ist, könnte helfen, zumindest für Neues und neue Formen der Arbeit an architektonischen Formen sensibilisiert zu bleiben, sich den Fragen ihres Ausdruck, ihrer Bedeutung zu öffnen, ein Gespür dafür zu behalten, wie sich Repräsentanz, Bedeutung und Stadtnutzung neu aufeinander beziehen lassen könnten. Vielleicht hieße dies sogar, dass sich auch Architekten der Kultur des Kopierens und der multiplen Autorenschaft öffnen könnten, um zeitgemäße Antworten auf Fragen der Architektur zu finden – wenn sie einen kreativen Diskurs nicht nur über Ergebnisse, sondern einen zeitgemäßen über Entwurfsprozesse führen;  wenn sie das Subjektive wieder so in sein Recht setzen, dass es der gemeinschaftlichen Arbeit dienlich gemacht werden kann, anstatt die Verdrängung des Subjektiven mit der Aufwertung der eigenen Person zu kompensieren. In welche Richtung sich Architektur entwickeln könnte, wenn der Diskurs zeitgemäß und lebendig geführt wird, wenn sich sogar neue Formen der Autorenschaft entwickeln, ist deswegen noch nicht abzusehen, es wäre auch seltsam, wenn sich dazu ein Autor verstiege, das prognostizieren zu können, der doch eben noch dafür plädiert hat, aus der Vergangenheit keine normativen Notwendigkeiten für den Entwurf abzuleiten. Mir scheinen nur weder parametrische Eigensinnigkeiten (14) noch Rekonstruktionen und pseudogeschichtliche Kontinuitätsillusionen überzeugende Wege zu sein. 

Ein Beispiel: Zwei Architekturkonzepte

Um zu zeigen, wie sich zwei Pole, denen ein unterschiedliches Verständnis von Objektivität und Subjektivität in der Architektur zugrunde liegt, äußern könnten, möchte ich nun auf ein schon über dreißig Jahre altes Buch zurückgreifen, das aber gerade weil es ebenso wie die in ihm behandelte Architektur mit einigem Abstand betrachtet werden kann, zeigt, dass ein Nebeneinander verschiedener Auffassungen legitim ist, und dass sich Abstufungen zwischen beiden denken lassen. 

1981 erschien ein Buch von Ingo Bohning  in dem er zwei Architekturkonzepte einander gegenüberstellt: »Autonome Architektur« und »partizipatorisches Bauen«. (15) Die autonome Architektur verbindet Bohning mit einer Gruppe von Architekten, die 1973 auf der Triennale von Mailand an die Öffentlichkeit getreten, »um mit erstaunlichem Selbstbewusstsein die Erneuerung der architektonischen Disziplin zu verkünden«. Mit dem Begriff »Rationale Architektur« suchte diese Gruppe um Aldo Rossi den Anschluss an die Architektur der 1920er und 1930er Jahre in Italien. Wichtiges Kriterium war dabei das der Autonomie. Bohning zitiert aus dem Ausstellungskatalog, wo es heißt, »dass die Architektur als autonomes Faktum der Technik und der Kultur nur durch ein großes Werk der Neugründung den augenblicklichen Zustand der Krise beenden kann.« Da Bohning den Begriff der rationalen Architektur für unglücklich hält, ersetzt er ihn durch den der autonomen Architektur. 

Zwischen dem Auftreten dieser Gruppe und dem Erscheinen des Buches wurden aber auch Gebäude fertiggestellt, mit denen Bohning das andere Architekturkonzept, das des partizipatorischen Bauens verknüpft. Mit dem Wohnkomplex der Medizinischen Fakultät von Leuven (Lucien Kroll, fertiggestellt 1976), dem Wohnbauprojekt Hollabrunn (Ottokar Uhl und Jos Weber, 1976), dem Gemeinschaftszentrum ‘t Karregat in Eindhoven (Frank van Klingeren, 1973) oder dem Centraal Beheer in Appeldorn (Herman Hertzberger, 1972) waren Gebäude entstanden, die auf verschiedene Weise partizipatorisches Bauen verwirklicht hatten. Das partizipatorische Bauen, das sich darin ausdrückt und das, ohne gestalterische oder künstlerische Ansprüche aufzugeben, das Prozessuale betont, werde, so Bohning, dadurch charakterisiert, dass die Gestaltung der Umwelt nicht nach innerarchitektonischen Gesetzen erfolgen solle, »sondern das Leben selbst soll der Bestimmungsgrund der Umweltgestaltung sein.« 

Dem gegenüber steht die autonome Architektur, die überzeitlich und überpersönlich gültige Typen und Formen sucht und sich dabei der geometrischen Grundformen bedient. Mit Verweis auf Frei Otto, Moshe Saftie, Michelucci und andere heißt es: »Die expressive Freiheit der Entwürfe bedeute in Wirklichkeit Unfreiheit, da sie nicht auf allgemeingültigen Prinzipien, sondern auf der Willkür subjektiver Entscheidungen beruht.« (Man beachte auch hier die Diskreditierung des Subjektiven.) Gesucht wird eine Architektur »frei von den Zufälligkeiten des historischen Augenblicks, eine endgültige, zeitlose Lösung« – eine Auffassung von Architektur, der sich auch heute viele werden anschließen können. In anderer Hinsicht trifft sich aber auch diese Architektur mit den Überlegungen partizipativer Architektur, die nicht vorgeben will, wie das Leben in ihr sich zu vollziehen habe. Denn Rossi lehnt es ab (aus heutiger Sicht möglicherweise überraschend), wie Bohning ausführt, »eine wünschenswerte Lebensweise unmittelbar in eine räumlich-architektonische Lösung zu übersetzen. Als Argument führt er an, dass derartige Lösungen eine Verbesserung der Lebensweise nicht garantieren können, da die Lebensweise von der Gesellschaft und nicht von der Architektur abhängt.«

Bohning hält beide Ansätzen für legitim. Er erkennt in der autonomen Architektur, dass Architektur Medium der Welterfahrung und Weltinterpretation sein und darin eine utopische Kraft haben kann: »Nach wie vor geht es um die Suche nach einer idealen Gesetzlichkeit und einer Gesellschaft, die dem zufälligen Leben des einzelnen einen Sinn gibt, es ordnet und es mit Klarheit durchdringt.«

2013: … ?

Wir sollten es uns gönnen, diese verschiedenen Ansätze als nicht vereinbare, aber trotzdem legitime Auffassungen nebeneinander stehen zu lassen, ohne die Widersprüche zwischen ihnen auflösen zu wollen: Die autonome Architektur als unveränderliche Konstante, die sich frei davon macht, den alltäglichen Prozess zu begleiten und die Architektur, die Freiheiten der prozessualen Gestaltung und Aneignung gewährt. Die eine, die sich von Subjektivität zu befreien sucht und die andere, die den Rahmen für dezidiert individuelle und subjektive Äußerung bieten will.

Das hieße aber auch, beide Ansätze ernst zu nehmen. Zum einen zu fragen, wie sich der subversive Charakter des Autonomen äußern könnte, auf den noch die Gruppe von 1973 bestanden hatte, da sie »sich dem unmittelbaren Leben« und damit auch der politischen Vereinnahmung entziehen wollte. In dem die Architektur durch ihre »Reinheit« ihrer Form eine Wirklichkeit für sich bildet, wollte sie sich jedem ideologischen Missbrauch entziehen. Die Skepsis, dass dies gelingen könne, die Bohning bereits 1981 für angebracht hielt, müsste nach wie vor ein steter Begleiter dieser Architektur sein. Denn die, die das Erbe dieser Architektur angetreten haben, wollen mitunter sehr wohl unmittelbares Leben bestimmen, wollen ein Bild endgültig richtigen guten Lebens formulieren, das nicht mehr utopisch gedacht ist.

In Bezug auf den partizipativen Ansatz gilt es sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass dieser nicht dem Entwurf und dem Bauen lediglich vorauszugehen habe, wie man dies heute gerne meint, sondern als ein die Architektur konstituierendes Element ihr eingeschrieben sein darf. 

Erst dann ist Beteiligung als grundsätzliches Verständnis von Architektur mehr als die Legitimation für einen Entwurf, der den Bewohner dann nur etwas später »zur Untätigkeit verdammt«. Solche Partizipation ermöglichte eine Architektur, die, wie es der experimentelle soziale Wohnungsbau in Mulhouse von Lacaton & Vassall etwa beispielhaft illustriert, anderes leistet, als es die dominierende Darstellung von Architektur vermittelt, dass Architektur genau nicht unmittelbar nach ihrer Fertigstellung als Objekt den vermeintlichen Höhepunkt ihrer potenziellen Qualitäten erreicht – solche partizipatorische Architektur würde verhindern, dass Architektur grundsätzlich reduziert wird auf ihren Entwurf, auf ihre Idee, für die vorab durch Bilder überzeugt werden muss, auf denen auch gerne mal die Sonne aus Norden scheint. Es könnte deswegen durchaus helfen, viele der aktuellen Diskussionen produktiv zu beleben, wenn wir Architektur in diesem Spannungsfeld ihrer autonomen Qualität und ihrer fortwährenden Veränderung sehen könnten. 

Literaturhinweise

  • (1) Volker Gerhardt: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins. Verlag C. H. Beck, München 2012
  • (2) Fritz Baumgart: Ägyptische und klassizistisch Baukunst. In: Klaus Jan Philipp (Hg.): Revolutionsarchitektur. Klassische Beiträge zu einer unklassischen Architektur. Braunschweig 1990 
  • (3) Vittorio Magnano Lampugnani: Langfristige Stadtkultur statt kurzfristige Funktionserfüllung. In: Mäckler, Sonne (Hg.): Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt, Band 1. Zürich 2011
  • (4) Ulf Poschardt: Wir sind ja so modern! Die Welt, 1. Juli 2012
  • (5) Thomas Nagel: Die Grenzen der Objektivität. Philosophische Vorlesungen. Stuttgart 1991
  • (6) Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Stuttgart 1999
  • (7) Richard Rorty: Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays. Stuttgart 1998
  • (8) zit. nach: Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte. Berlin 2013
  • (9) Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1992
  • (10) s. Anm. 5
  • (11) Rittel, Horst W.J.: Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung. Mit Melvin M. Webber. In: ders.: Planen, Entwerfen, Design. Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik. Herausgegeben von Wolf D. Reuter. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 13–36
  • (12) Die Siegel der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen DGNB zeichnen Gebäude für ihre »Nachhaltigkeit« aus. Nicht nur ästhetisch sind diese Auszeichnungen fragwürdig, etwa wenn Shopping Center ausgezeichnet werden, muss der Stadtplaner erhebliche Zweifel anmelden.
  • (13) http://www.kicker.de/news/fussball/chleague/startseite/569103/artikel_wenn-der-zweck-die-mittel-heiligt.html
  • (14) Unter parametrischem Entwerfen versteht man, verkürzt gesagt, ein Entwerfen, in dem der Entwerfer lediglich Parameter setzt und den Computer unter Begrenzung möglicher Grundelemente die dem jeweiligen Fall (Wetter, Last o. ä.) angemessene Form zu finden.
  • (15) Ingo Bohning: »Autonome Architektur« und »partizipatorisches Bauen«. Zwei Architekturkonzepte. ETH Zürich, Geschichte und Theorie der Architektur, Band 24, Basel 1981

Anmerkung

  • Diesem Text liegen Essays des Autors zugrunde, die auf http://www.german-architects.com veröffentlicht wurden. Sie wurden für diesen Beitrag zusammengeführt, überarbeitet und erweitert. 

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