30. November 2013

René Spitz

Zwei Häuser

Aalto-Haus (1936), Riihitie 20, Helsinki, Finnland

»Auch die Architektur hat immer einen versteckten Beweggrund, der um die Ecke lauert, die Vorstellung, das Paradies zu erschaffen. Das ist das einzige Ziel unserer Gebäude. Wenn wir nicht unser ganzes Leben lang von dieser Vorstellung begleitet würden, wären alle unsere Gebäude einfacher und trivialer und das Leben wäre … – nun ja, würde es das Leben dann überhaupt geben? Jedes Gebäude, jedes architektonische Erzeugnis, das es symbolisiert, soll demonstrieren, dass wir dem Menschen ein Paradies auf Erden errichten wollten.« Alvar Aalto

Als das finnische Architektenpaar Aino und Alvar Aalto einen Planungsauftrag vom Unternehmen Stenius erhält, entschließt es sich 1934, von Turku nach Munkkiniemi umzuziehen. Der Ort ist zu dieser Zeit noch eine eigenständige Stadt in der Nähe Helsinkis, wenige Jahre später wird er in die finnische Hauptstadt eingemeindet.

Die beiden Architekten erwerben in Munkkiniemi ein Grundstück, das sich zu dieser Zeit noch in einer unbesiedelten Gegend befindet. Das Haus, das sie darauf bauen, bewohnen sie ab 1936 nicht nur mit ihren beiden Kindern. Sie nutzen es auch als Büro. Aino stirbt 1949, und Alvars zweite Ehefrau Elissa zieht 1952 ein. Im Laufe des wachsenden Erfolgs belastet die Nutzung als Arbeitsraum für bis zu zwanzig Mitarbeiter das Haus bis ans Äußerste. Deshalb plant und baut Alvar Aalto ein neues Büro nur wenige Straßenzüge entfernt, das 1955 bezogen wird. Als er 1976 stirbt, bleibt das Haus auch weiterhin der Wohnsitz seiner Familie. Elissa stirbt 1994. Wenige Jahre später übernimmt die Aalto Stiftung das Haus. Seit 2002 ist es als Museum öffentlich zugänglich.

Mit diesen wenigen Worten ist das grobe Faktengerüst dieser überschaubaren Architekturgeschichte beschrieben. Es heißt in einschlägigen Veröffentlichungen, das Haus markiere eine signifikante Etappe auf dem Übergang von einer mehr oder weniger rigide rationalistischen Haltung Alvar Aaltos zu einer weicheren, sanfteren Formensprache, die mit wohlfeilen Etiketten wie »romantisch«, »organisch« oder »human« seine umgänglichere Ausdrucksweise der Architekturmoderne benennt. Seine Architektur verweise auf einen bald darauf folgenden Entwurf, die ungleich luxuriösere Villa Mairea. Solche Schubladen sind jedoch nur eingeschränkt hilfreich für ein differenziertes Verständnis seiner Arbeit. Wie sehr er sich dessen bewusst war, dass es beim Hervorbringen von gestalterischen Qualitäten selten um Unterbrechungen und Abgrenzungen geht, aber meist um Anknüpfungen und Zusammenhänge: „Nicht alles entsteht jemals wieder neu. Doch es verschwindet auch nicht ganz und gar. Und alles, was einmal gewesen ist, taucht immer wieder in neuer Form auf.« 

Das Haus wirkt auf den Besucher im ersten Moment abweisend, und dass es sich auf seiner Rückseite mit einer großzügigen Sonnenterrasse öffnet, mag überraschen. Von der Straßenseite ist die Nutzung des Gebäudes ablesbar, aber diese Lesbarkeit wird dem Betrachter nicht aufgedrängt: Der Bürotrakt ist lediglich am weiß gestrichenem Mauerwerk zu erkennen. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine strikte Trennung, vielmehr um eine strukturierte Zonierung, denn im Vordergrund steht die Gesamtwirkung eines harmonischen Gefüges von familiärem und beruflichem Leben, von der Integration der Gestaltung (Architektur, Design, Kunst) in den Alltag. Die unten liegenden Räume erzeugen eine Abfolge für Arbeiten und Wohnen, die oberen Räume sind der Familie vorbehalten. Intimität, unprätentiöse Zurückhaltung und Klarheit sind vermutlich die Begriffe, mit denen die Atmosphäre des Hauses am treffendsten angedeutet werden kann. 

Alvar Aalto hat mehr als 400 Gebäude entworfen, dazu mehrere Dutzend Möbel, Einrichtungsgegenstände, Leuchten und weitere Objekte. Seit 1935 unterhielt er neben seinem Büro als Architekt und Designer auch die Firma Artek, die er nicht nur als Produzent, sondern auch als Galerie konzipierte. Von diesem weit gefächerten Schaffen haben es im wesentlichen nur drei Entwürfe geschafft, sich als Ikonen der modernen Gestaltung ins allgemeine visuelle Gedächtnis einzuprägen: Ein Sessel (»Paimio«, 1931/32), ein Hocker (»Stool 60«, 1933) und eine Vase (»Savoy«, 1936). Die übrigen Arbeiten sind vorwiegend einem speziell interessierten und geschultem Publikum präsent. Das klingt ein wenig ernüchternd, wenn man sich seinen humanistischen Anspruch vor Augen hält: »Es gibt nur eine Regel, die für Architektur gilt: natürlich zu bauen. Tu nichts Unnatürliches, tu nichts Unnötiges. Alles, was überflüssig ist, wird mit der Zeit hässlich.«

Le Corbusiers Ferienhaus (1949), Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich

Ein einziges Zimmer. Quadratische Grundfläche. 366 cm Seitenlänge. 226 cm Raumhöhe. Vorfabriziert in Korsika. Vor Ort zusammengesetzt. Radikale Architektur. Zweckmäßig, funktionstüchtig, in jeder Hinsicht nüchtern kalkuliert. 

Wie jeder Rebell, so packt auch Le Corbusier die Dinge bei den Wurzeln, um die Verhältnisse neu zu ordnen. Er ist gewillt, eine eigenständige Formensprache zu entwickeln, die seiner Zeit entsprechen soll, genauer: die den technischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit und die zunehmende Beschleunigung des Wandels – und beides erschien ihm als Inbegriff des Fortschritts – zu einem angemessen Ausdruck verhelfen soll. Weil der Mensch des 20. Jahrhunderts in seinen veränderten Lebensbedingungen im Vergleich zu vorherigen Epochen ein anderer sei, müsse auch die Gestaltung eine andere werden. Konventionen: Über Bord damit! Ästhetische Stile: Von gestern! Transparenz, dynamische Bewegung sowie technische Präzision und maschinelle Effizienz sind die Metaphern, die (aus seiner Sicht) den Erfolg der Industrialisierung begründet haben und deshalb in der Architektur konsequent umzusetzen seien. 

Le Corbusier artikuliert seine Ideologie 1923 in der berühmten Streitschrift »vers une architecture« und benennt fünf notwendige Punkte in seinem Ausblick auf eine neue Architektur (Trennung von tragenden und nichttragenden Elementen unter Verwendung von Stützen, Flachdach mit Dachgarten, freier Grundriss, Fensterbänder und freie Fassadengestaltung). Eine Folge seines Fortschrittsoptimismus' ist seine Favorisierung von Beton und Stahl als Materialien der industriell vorgefertigten Elemente. Was findet sich davon in dieser Klause, diesem mönchisch anmutendem Rückzugsort?

Wie Alvar Aalto (und wie viele andere sogenannte »Klassiker« der modernen Gestaltung), so hat auch Le Corbusier in der Rezeption und kommerziellen Marketing-Verwertung ein eintöniges Schicksal ereilt. Die Konzentration auf wenige Bilder, die wieder und wieder verbreitet werden, hat eine facettenreiche Wahrnehmung in der breiteren Öffentlichkeit verhindert. 

Statt dessen ist Le Corbusier einer von wenigen mythischen Heroen in der Hall of Fame ewiger Aktualität, ein Platzhalter, der eine bestimmte – oberflächlich vereinfachte – Bedeutung symbolisiert und ironisch-tragischerweise auf einen Stil verweist, welcher wir uns heute als einer Option unter vielen gleichwertigen bedienen können. Eine spezifische Haltung ist zur Attitüde degeneriert, welche demonstrativ konsumiert wird und deren Mitteilungsfunktion längst ihrer zugrunde liegenden Überzeugung den Rang abgelaufen hat. Die üblichen Bilder, die das Schlagwort »Le Corbusier« hervorrufen, stehen einer angemessenen Auseinandersetzung mit seiner Bedeutung im Wege. 

Die Tendenz zur Fokussierung auf immer weniger allbekannte Klischees bei gleichzeitig wachsender Omnipräsenz spiegelt auch die merkwürdigerweise weit verbreitete Sprachlosigkeit in der Architektur. Selten gelingt es, die atmosphärische Wirkung einer alle Sinne ansprechenden Gestaltung in Worte zu fassen, ohne in Stereotypen zu verfallen. Diesem Hindernis steht die Einfachheit gegenüber, mit der Bilder als Fotos eingefangen werden können. Dass dann (bestenfalls) nicht die Stimmung des Raums im Kasten ist, sondern eine eigenen bildnerischen Gesetzen folgende Stimmung entsteht, bleibt meist außer Acht.



Wir danken Estelle Hanania für die gezeigte Aufnahme und The Weekender für die Erlaubnis, den in ihrem Magazin erschienenen Text auf unserem Blog zu veröffentlichen.





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Alvar Aaltos Haus von 1936 in Munkkiniemi, Aufnahme: Estelle Hanania
Alvar Aaltos Haus von 1936 in Munkkiniemi, Aufnahme: Estelle Hanania